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Ritualisierung

in Chinesische Kultur - 中国文化 29.08.2010 13:09
von Admin • Little China Man | 64 Beiträge

Ein weiterer Grundzug chinesischer Kultur ist die Ritualisierung. Viele Handlungen und Prozesse des täglichen Lebens unterliegen oder unterlagen strikten, unbedingt zu beachtenden Vorschriften. Vorgegeben werden sie zumeist von der Tradition und damit letztlich von den Vorfahren bzw. dem Meister, womit sich der Kreis zur bereits angesprochenen Hierarchisierung schließt. Die hohe Wertschätzung des Lernens gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die in China zu allen Zeiten stark ausgeprägte Bürokratie.

Abweichungen von den Vorgaben werden bestenfalls belächelt, oft aber auch sanktioniert. Spontanität, Improvisation, Originalität oder Selbstverwirklichung sind insofern weitgehend verpönt, was zusammen mit der Angst vor dem Gesichtsverlust zu einem erhöhten Konformitätsdruck und zur geringen Verbreitung von Exzentrikern in China führt. Das Kopieren von Vorbildern indes gilt vor diesem Hintergrund ausdrücklich als erwünscht, lobenswert und keineswegs als verwerflich, was zur Erklärung der heute gerade in China florierenden Produktpiraterie beiträgt.

Beispiele für die Ritualisierung sind etwa die verschiedenen traditionellen Grußformeln und Verbeugungen, die sich exakt am Status des Gegenübers auszurichten hatten, die Art und Weise wie Essen serviert, Tee eingeschenkt oder Visitenkarten überreicht werden. Auch beim Schreiben ihrer Schriftzeichen achten die Chinesen üblicherweise penibel darauf, dass die Striche exakt in der verbindlich vorgeschriebenen Reihenfolge gezogen werden, selbst wenn dies anhand des „Endprodukts“ gar nicht mehr festgestellt oder nachvollzogen werden kann. Auch bei den kaiserlichen Beamtenprüfungen wurde von den Kandidaten die akribische Kenntnis und Wiedergabe der konfuzianischen Klassiker erwartet. Als pietätsvoller konfuzianischer Sohn hatte man nach dem Tod des Vaters – unabhängig von der tatsächlichen Stimmungslage - exakt drei Jahre zu trauern.

Vielfach wurde damit der über Jahrhunderte hinweg erstaunlich statische Charakter des chinesischen Gemeinwesens erklärt. In der Tat sind etwa Gemälde oder Erzählungen aus der Qing-Dynastie stilistisch oft kaum von ihren Vorbildern aus der Tang-Zeit zu unterscheiden; gleiches gilt für philosophische oder politische Ideen: Spätestens ab der Zeitenwende wurden die klassischen Lehren der Achsenzeit, also Konfuzianismus, Daoismus und Legalismus nur noch neu interpretiert; aufgrund der „Verehrung“ der Alten kam jedoch nichts bahnbrechend Neues hinzu. Mitte des 19. Jahrhunderts sollte die hierdurch erzeugte „Starrheit“ freilich zum Zurückfallen Chinas gegenüber dem Westen und damit zum Niedergang des Reiches und seinem Fall in halbkoloniale Abhängigkeit beitragen.

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